Ein anderes Land
7 Geschichten nach der Wende

D 1998, Beta SP 110 Min.

Regie
Fredo Wulf und Quinka Stoehr

Kamera
Quinka Stoehr, Gisela Tuchtenhagen

Ton
Fredo Wulf, Carola Kloss, Hans Euler

Schnitt
Kai Zimmer

Redaktion
Reinhard Wulf (WDR/3Sat)

Gefördert von der Kulturellen Filmförderung Schleswig-Holstein
und Kulturellen Filmförderung Mecklenburg-Vorpommern

inhalt

"Ein gutes Zehntel Leben"
Die Langzeitdokumentation „Ein anderes Land - fünf Geschichten nach der Wende" beobachtet fünf Schicksale über neun Nachwendejahre (22.35 Uhr, West3) taz vom 27.September 1999 von Stefanie Haake

Neun Jahre sind kein Pappenstiel, das ist ein Zehntel eines langen Lebens. In einem solchen Zeitraum verändert sich auch ohne große Umbrüche viel im Leben eines Menschen. Das Leben der fünf Ost- und Westdeutschen, die dieser Film zeigt, wird aber gleich zu Beginn der Dreharbeiten durch einen mächtigen Einschnitt verändert: die deutsche Einheit. Der Zusammenbruch des eigenen Staates, analysiert der Lagerarbeiter Jens Nitsch rückblickend, war eigentlich absehbar. Denn: „Wenn de dir das richtig überlegst, konnte es ja nicht gehen, mit einem Brot für 93 Pfennige, oder? War doch alles unterbezahlt. Da ham wir alles kaputtgewirtschaftet mit."

Anders als der auch von Arbeitslosigkeit betroffene Hilfsarbeiter gehörte der Volkspolizist Siegfried Kroh zunächst zu den Wendegewinnern. Er baute das erste Autohaus in der Region auf und verkauft zunächst gut. „Dieses System hat verloren", sagt er über seinen aufgelösten Staat, „weil die Betrüger auf unserer Seite waren. Deshalb haben wir verloren. Nur weil wir betrogen worden sind. Sonst hätte der Kapitalismus keine Chance gehabt." Der Einschnitt, der Fall der Mauer und die Währungsunion, verändert die Leben aller Personen dieses Films abrupt. Die Filmemacher Fredo Wulf und Quinka Stoehr, die ihre Dokumentation mit dem Tag der Währungsunion beginnen lassen, werden für alle zu Adressaten ihres Ringens nach der richtigen Beschreibung und Deutung der Zeitabschnitte, die zwischen den einzelnen Besuchen des Filmteams in Strasburg liegen. Ohne Voyeurismus, mit offensichtlich zunehmender Sympathie und mit Fragen, die allein dem genaueren Verständnis dienen, treten die Dokumentaristen aus dem Westen den Strasburgern gegenüber. Am Material ist deutlich ablesbar, wie sich mit der Zeit alle an die Zusammenarbeit gewöhnen.

Die Porträtierten werden von Jahr zu Jahr lebendiger, auch die Kamera und Ton entwickeln sich und kommen immer angemessener und kunstvoller zum Einsatz. Der Film handelt davon, wie die Menschen in Ostdeutschland mit der neuen Situation fertig werden. Wulf und Stoehr lassen einen Raum entstehen, in dem die Stimmen ihrer Protagonisten nicht als „Beweise" oder „Belege" für eine lange schon vorher fertige Wende-Interpretation, sondern als fünf von unendlich vielen möglichen Interpretationen lesbar sind.

Ein einheitliches Bild von „den" Ostlern nach der Wende will sich hier nicht einstellen. Was deutlich wird, ist die Wucht, mit der die politische und ökonomischen Veränderung das Leben jedes Einzelnen trifft. Während die einen zunächst oben schwimmen und den Kapitalismus für sich zu nutzen wissen ( der Autohändler ) oder ihre Zukunft noch vor sich haben /
(wie der 12-jährige Pastorensohn Chrissie, der nach der Wende erstmal genießt, nicht mehr gehänselt zu werden, klammern sich die anderen an jedes noch so kleine Stückchen Heimat.

Wie Jens Nitsch, der es vorzieht, in Strasburg arbeitslos zu sein, statt woanders sein Glück zu suchen. Am Ende machen alle Verluste. Die Geschäfte des Autohändlers Kroh gehen bald nicht mehr gut, er muß Mitarbeiter entlassen, und der Pionier aus dem Westen, Herr Brattig, sitzt schließlich als Wendeverlierer mit einem leeren Neubau und Alimenten da. Auch Jens Nitsch ist Vater geworden, und hat nun keine Wahl mehr zwischen Knochenarbeit oder Arbeitslosigkeit.